Was ist die Critical Incident Technique?
Die Critical Incident Technique (dt. Methode der kritischen Ereignisse) ist eine Methode zur Anforderungsanalyse (Nerdinger et al., 2019). Ziel ist es die Anforderungen einer Arbeitsstelle zu ermitteln. Dies bedeutet herauszufinden welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen ein Mitarbeiter benötigt, um seine Tätigkeit zu erfüllen.
Merke:
Mit der Critical Incident Technique (Abk. CIT) werden Schlüsselereignisse ermittelt,
welche für einen Arbeitsplatz besonders erfolgsrelevant sind (Schuler, 2014). Anhand dieser Schlüsselereignisse kann erkannt werden, welche Kompetenzen ein Mitarbeiter benötigt, um den Beruf bestmöglich auszuüben.
Autor
Die Critical Incident Technique wurde von John C. Flanagan im Jahr 1954 entwickelt (Flanagan, 1954). John C. Flanagan war ein amerikanischer Psychologe, der Bekanntheit durch seine Forschung im Bereich Führung und Bildung erlangte.
Originalquelle: https://doi.org/10.1037/h0061470
Anwendungsfelder – aufbauend auf der Anforderungsanalyse
Die Critical Incident Technique ist eine Methode der Anforderungsanalyse mit den Besonderheiten, dass funktionale und dysfunktionale Verhaltensweisen ermittelt werden. Mit diesem Wissen, über funktionalem und dysfunktionalem Verhalten ist die Grundlage für mehrere Anwendungsfelder der Personalpsychologie gegeben. Dies Anwendungsfelder sind die Personalauswahl, die Leistungsbeurteilung und die Personalentwicklung (Schuler, 2014).
Personalauswahl bzw. Eignungsdiagnostik
Damit eine Eignungsdiagnostik durchgeführt werden kann, ist es notwendig zu wissen welche Kompetenzen ein Mitarbeiter benötigt. Dies wird mittels einer Anforderungsanalyse erhoben, beispielsweise der Critical Incident Technique. Anhand dieser Erkenntnisse kann eine empirisch fundierte Personalauswahl aufgebaut werden.
Beispiel: Es wurde eine Anforderungsanalyse mit der Critical Incident Technique für einen Beruf mit Kundenkontakt durchgeführt. Die Bewerber müssen also auf ihre Eignung in Bezug auf Kundenkontakt getestet werden. Die kann in einem Assessment-Center mittels Rollenspiel überprüft werden. In dem Assessment-Center werden realitätsnahe Situationen aus dem Berufsalltag abgebildet, welche die Bewerber bestehen müssen.
Leistungsbeurteilung
Um die Leistung der Mitarbeiter zu messen, ist es notwendig zu wissen, was ein Mitarbeiter alles können muss. Dieses erforderliche Können kann mit der Critical Incident Technique erhoben werden.
Personalentwicklung
Personalentwicklung dient dazu einen Mitarbeiter von einem Ist- auf einen Soll-Zustand zu entwickeln. Der Ist-Zustand wird mittels einer Leistungsbeurteilung gemessen. Mit der Critical Incident Technique kann der Soll-Zustand ermittelt werden.
Beispiel: In dem vorherigem Beispiel mit Kundenkontakt, wurde mittels der Critical Incident Technique spezifische kritische Situationen im Kontakt Kunden ermittelt (z.B. Verärgerter Kunden wegen eines spezifischen Problems mit dem Produkt). Anhand dieser Erkenntnisse können Maßnahmen im Unternehmen eingeleitet werden, in denen die Mitarbeiter lernen genau solche Probleme (mit der Wut bzw. Enttäuschung der Kunden und dem nicht funktionierendem Produkt) zu lösen.
Beispiel:
Es soll eine neue Software im Unternehmen eingeführt werden. Mit der Critical Incident Technique kann herausgefunden werden, in welchen Funktionen die Mitarbeiter besonders gut sein müssen. Beispielsweise, wenn eine Funktion besonders wichtig für die Ziele des Unternehmens sind oder die Funktion im Arbeitsalltag häufig genutzt werden soll. Die Critical Incident Technique gibt dann Aufschluss über die Soll-Kompetenzen der Mitarbeiter, bezogen auf die neue Software.
Vorteile und Nachteile
Vorteile:
- Verhältnismäßig geringer Aufwand im Vergleich zu anderen Analysemethoden.
- Geringere Kosten, da für die Critical Incident Technique keine standardisierten Fragebögen gekauft werden müssen.
- Eine durchgeführte Anforderungsanalyse mit der Critical Incident Technique bietet eine gute Grundlage für die Eignungsdiagnostik, die Leistungsbeurteilung und die Personalentwicklung. Es ist leichter als bei anderen Instrumenten Personalentwicklungsmaßnahmen abzuleiten, weil bereits funktionale Verhaltensweisen in wichtigen Berufssituationen erhoben wurden (siehe fortlaufend).
Nachteile:
- Erfasst nur bewusste Anforderungen
- Es müssen ausreichend Personen zur Verfügung stehen, die im Rahmen der Critical Incident Technique befragt werden können (je nach Fall 5-20).
Voraussetzungen
- Da mit der Critical Incident Technique mitunter große Mengen an Daten erhoben werden braucht es zur Auswertung grundlegende Statistikkenntnisse (z.B. Faktorenanalyse)
- Um aussagekräftige Daten zu erhalten braucht es 5-20 Personen (je nach Komplexität des Berufes) um die Critical Incident Technique durchzuführen. Alle Personen müssen die gleichen oder zumindest sehr ähnliche Tätigkeiten ausüben.
- Auch wenn die Kosten nur gering ausfallen, braucht es etwas an Geld (Bezahlung der Person die die Critical Incident Technique durchführt und der Mitarbeiter die befragt werden). Das ROI ist allerdings sehr gut, so das die Investition mit der steigenden Arbeitsleistung schnell wieder reingeholt wird.
- Im Idealfall sollte die Critical Incident Technique von Psychologen oder Diagnostikern durchgeführt werden. Vor allem in den anschließenden Verfahren zur Eignungs- und Leistungsdiagnostik sowie der Personalentwicklung zeigte sich, dass diese am effizientesten sind, wenn diese von ausgebildeten Psychologen durchgeführt werden (Kanning, 2018).
Die Critical Incident Technique durchführen
Es gibt nicht den einen Ablauf für Critical Incident Technique – Vielmehr stehen mehrere verschiedene, aber ähnliche Varianten der Critical Incident Technique zur Verfügung (Kanning, 2002). Welche genaue Variante sinnvoll ist muss von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden. Die im Folgenden genannten Schritte finden sich entweder in allen Varianten der Critical Incident Technique wieder oder es werden verschiedene Ansätze zum jeweiligen Schritt vorgestellt. Der Ablaufplan ist umfassend – Jedoch kann nicht jede noch so kleine Abweichung hier aufgezeigt werden. Sehr spezifische Vorgehensweisen finden sich in der angegebenen Literatur.
Schritt 1: Sammeln kritischer Ereignisse und Situationen
Im ersten Schritt werden kritische Ereignisse durch eine Fragetechnik gesammelt (Kanning, 2002; Schuler, 2014; Nerdinger, 2014). Kritische Ereignisse sind Situationen in einem Berufsalltag welche entweder häufig vorkommen oder besonders erfolgsrelevant für den jeweiligen Arbeitsplatz sind.
Die Ereignisse können mit zwei verschiedenen Erhebungsmethoden gesammelt werden (Kanning, 2002).
Methode 1: Es werden 5-20 Arbeitsplatzexperten nach kritischen Ereignissen befragt. Arbeitsplatzexperten können sein:
- Stelleninhaber
- Vorgesetzte, Vorarbeiter
- Mitarbeiter (einer Führungskraft unterstellte Personen)
- Kunden
Jeder Experte sollte circa 10 kritische Ereignisse benennen. Der Diagnostiker (Person, welche die Analyse durchführt) sollte die Ereignisse stichpunktartig auf Papier und vollständig Ton festhalten.
Die Frage soll bei allen Experten auf die gleiche Weise gestellt werden. Änderungen der Frage während der Durchführung sind kontraproduktiv. Die genaue Formulierung der Frage ist zweitrangig. Wichtig ist nur, dass nach häufigen und besonders erfolgsrelevanten Situationen gefragt wird. Außerdem sollten die beschriebenen Situationen realistisch sein, also im Berufsleben wirklich so vorkommen.
Beispielfragen:
Welche Situationen treten häufig in Ihrem Arbeitsalltag auftreten?
Welche Situationen sind für Ihre Tätigkeit besonders wichtig bzw. erfolgsrelevant?
Methode 2: Stelleninhaber werden beim Ausführen ihrer Tätigkeit beobachtet (Kanning, 2002). Der Beobachter notiert dabei, wie häufig eine Tätigkeit ausgeübt wird und welche Tätigkeiten besonders wichtig für die Ziele der Arbeitsstelle sind.
Anmerkung:
Methode 1 sollte die Methode der Wahl sein. Diese hat die Vorteile, dass auch wichtige Ereignisse welche, während dem Untersuchungszeitraum nicht auftreten, berücksichtigt werden. Zudem ist Methode 1 weniger zeitaufwändig und somit günstiger. Bei besonders wichtigen Positionen können beide Methoden kombiniert eingesetzt werden.
Schritt 2: Hinterfragen der Situation, um die Vorgeschichte zu identifizieren
In den meisten Anwendungsfällen ist es wichtig nur kritische Ereignisse zu erfassen, in denen der Stelleninhaber einen Einfluss auf das Geschehen hat. Um sicherzustellen, dass dies der Fall ist, kann zusätzlich nach der Entstehung der Situation gefragt werden (Kanning, 2002; Schuler, 2014).
Beispielfrage:
Welche Umstände haben zu dieser Situation geführt?
Was ist vor Eintreten der Situation geschehen?
Die Entstehungssituation ist auch für die Personalentwicklung wichtig (Schuler, 2014). Beispielsweise, wenn besonders kritische Situationen zu Trainingszwecken in Rollenspielen nachgespielt werden. Mit der Vorgeschichte der Situation kann nicht nur das Verhalten in der Situation trainiert werden, sondern auch die Reaktion, wenn die Situation eintrifft oder wenn verhindert werden soll, dass die Situation überhaupt eintritt.
Schritt 3: Sammeln konkreter Verhaltensweisen
Im dritten Schritt werden zu jeder Situation konkrete Verhaltensweisen gesammelt (Kanning, 2002). Für jede Situation muss identifiziert werden was eine besonders gute und was eine besonders schlechte Verhaltensweise in der jeweiligen Situation ist. Anhand dieser kritischen Verhaltensweisen werden später Eignungstests oder Schulungen für die Personalentwicklung entwickelt. Auch zur Leistungsbeurteilung kann das Wissen über kritische Verhaltensweisen herangezogen werden.
Um konkrete Verhaltensweisen zu ermitteln, gibt es ein umfangreiches und ein schnelles Vorgehen. Welche Vorgehensweise die funktionalere ist muss im Einzelfall entscheiden werden. In beiden Vorgehensweisen wird die Frage nach besonders funktionalen und dysfunktionalen Verhaltensweisen gestellt. Die zwei Vorgehensweisen unterscheiden sich in der Anzahl der Experten, die befragt werden.
Schnelles Vorgehen: Die Frage nach dem Verhalten wird direkt im Anschluss zu der Frage nach der Situation an den jeweiligen Arbeitsplatzexperten gestellt, der die Situation genannt hat.
Umfangreiches Vorgehen: Die Befragung erfolgt in zwei Runden. In der ersten Runde werden alle Experten nach kritischen Ereignissen befragt. Anschließend werden die genannten kritischen Ereignisse vom Diagnostiker zusammengetragen und doppelte aussortiert. In der zweiten Runden werden alle kritischen Situationen allen Experten vorgelegt und jeder Experte nennt zu allen Situationen (auch die von anderen genannt wurden) kritische Verhaltensweisen.
Beispielfragen:
Welches Verhalten ist in der genannten Situation am zielführendsten?
Welches Verhalten ist in der genannten Situation vollständig kontraproduktiv?
Wenn 20 Experten zu jeweils 10 Situationen befragt werden, sind dies 200 kritische Ereignisse mit jeweils einer produktiven und einer kontraproduktiven Verhaltensweise. Also insgesamt 400 Verhaltensweisen. Verwendet man das umfangreiche Vorgehen erhält man deutlich mehr Verhaltensweisen (wovon natürlich viele doppelt genannt werden). Deshalb müssen die gewonnenen Daten (Situationen und Verhaltensweisen) im nächsten Schritt einer Faktorenanalyse unterzogen werden (Kanning, 2002).
Schritt 4: Extraktion zugrundeliegender Anforderungsdimensionen (Eigenschaften)
Mit einer Faktorenanalyse bzw. Hauptkomponentenanalyse werden die grundlegenden Fertigkeiten und Fähigkeiten der Daten extrahiert (Kanning, 2002). Dazu wird ein Fragebogen mit den genannten Situationen als Frage und den genannten Verhaltensweisen als Antwortskala (verhaltensverankert) aufgestellt. Anschließend bewertet die Arbeitsplatzexperten einen Kollegen anhand des Fragebogens. Die Ergebnisse werden einer Faktorenanalyse und Reliabilitätsanalyse unterzogen, um so die Verhaltensweisen zu bündeln und zugrundeliegenden Eigenschaften zu ermitteln.
Fazit
Die Critical Incident Technique ist eine relativ einfach durchzuführende Anforderungsanalyse. Der größte Vorteil ist, dass direkt erfolgsrelevante Berufstätigkeiten empirisch erhoben wurden und ebenfalls ideale Verhaltensweisen bekannt sind, aus welchen Schulungen zur Personalentwicklung oder Rollenspiele für Assessmentcenter ohne größeren Aufwand entwickelt werden können.
Literatur / Quellen
Flanagan, J. C. (1954). The critical incident technique. Psychological Bulletin, 51, 327–358. http://doi.org/10.1037/h0061470
Kanning, U. P. (2002). Handbuch personaldiagnostischer Instrumente. Hogrefe. https://portal.dnb.de/opac.htm
Kanning, U. P. (2018). Standards der Personaldiagnostik: Personalauswahl professionell gestalten. Hogrefe Verlag GmbH & Company KG. https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/5JDRNSFO577GML6KLJXX6HI2T5DY2NMX
Nerdinger, F. W., Blickle, G., & Schaper, N. (2019). Arbeits- und Organisationspsychologie. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56666-4
Schuler, H. (2014). Kapitel 3 Arbeits- und Anforderungsanalyse. Lehrbuch der Personalpsychologie, 61. https://books.google.de/books/about/Lehrbuch_der_Personalpsychologie.html?hl=de&id=LQINAwAAQBAJ&redir_esc=y